Wie ich das „Braune Deutschland“ als Kind erlebte.

Geboren am 6. Dezember 1932 in Hamburg – Altona, wurde ich nach den ersten zwei Jahren erstmals und unbedarft mit den „bösen Onkels“ konfrontiert, die meinen Pappi abholen wollten. Diese Spitzbuben kamen ganz einfach in unsere Wohnstube – – –

Mein Vater war eingebürgerter Belgier, wurde aber als Deutscher zunächst mal nicht, aber nach circa 2 Jahren doch rechtmäßig anerkannt. Das waren meine Bösen, die mir zum Schluss aber erklärten, dass mein Pappa doch ein richtiger Pappa war, das hatte Onkel Adolf jetzt doch rechtmäßig anerkannt.

Inzwischen hatte ich einen Bruder, den ich aber nicht anfassen durfte in seinem Stubenroller – und ich durfte auch nicht in der Stube an ihm vorbeigehen, geschweige denn in der Stube zukucken, wenn Mammi ihm die Brust gab. Er war eben „der Prinz“. . . Aber ich musste immer mitgehen in die „WIEGESTUNDE“ gleich schräg um die Ecke. Das war eine staatliche fürsorgliche Einrichtung des „Deutschen Roten Kreuzes“, die Pflege aller Neugeborenen oder noch nicht Schulpflichtigen. Schüler der ersten Klasse und alle danach wurden regelmäßig auf den Schulhöfen getestet und die Eltern bei Unregelmäßigkeiten der Schülergesundheit entsprechend benachrichtigt und hingewiesen wurden.

Mein Pappa war Maler und Holzbildhauer und nun aber Deutscher! Und er musste Geld verdienen für seine Familie, hatte auch keine Chance zurück in die Heimat – mit der Familie -, denn die Heimat wartete auf ihre heimatlichen Deserteure für den Knast. Folglich: Blohm & Voss. Arbeiten mussten alle, wehe, wer sich drückte! Warum auch? Jeder Arbeitnehmer – sag ich mal! – hatte Chancen, sich zu etablieren. Man konnte wählen. Es gab – egal wo – immer Möglichkeiten, etwas Anderes zu machen; es hatte allerdings irgendwie auch seine Grenzen. Das Land musste leben, jeder musste sich einbringen, egal was er gern tat oder nicht, denn er wurde möglicherweise entsprechend unterstützt.

Besonders war es die Jugend, die unterstützt wurde. Es ging nicht darum, wer du bist, es ging darum, was du willst oder möchtest; es war wichtig für deine Zukunft, und du konntest dich in jeder Sparte bemühen soweit es eben für alle machbar war, wenn sie denn wollten. Ich möchte nicht behaupten, dass jedem alle Tore offen waren, aber im Großen und Ganzen – und das war nicht der Fahne zu verdanken – konnte mehr oder weniger jeder, der es wollte, seinen Weg gehen. Natürlich gab es Grenzen: die Nation konnte nicht alles wuppen; aber was sie konnte, das wurde getan. Klar, es wurde möglicherweise irgendwo gemeckert, aber die Disziplin – und das sage ich heutzutage mit Erstaunen – die Disziplin war außerordentlich und vor allem GERECHT! Es tut mir leid, aber wenn ich unser „Heute“ mit damals vergleichen sollte – versucht es gar nicht erst! Man brauchte keine Angst zu haben, als Mädchen im Dunkeln nach Hause zu müssen. Entweder gab es die Jugend, die Anderen halfen, oder es gab die Polizei, dein Freund und Helfer, deine Nachbarn oder wen auch immer.

Was für heutzutage offensichtlich überhaupt nicht interessiert, ist damals eine Hauptsache gewesen: WAS PASSIERT MIT DEN ALTEN???

Niemand – aber wirklich niemand hätte die alten Leute im Stich gelassen! Die Jugend – wie immer sie auch motzig war – hat es niemals zugelassen oder gewagt, eine alte Frau oder eine einen alten Mann im Stich zu lassen, (ich will ja nicht davon reden, dass ein alter Mensch heutzutage sogar vom Kantstein gestoßen wird) und waren die Bomben noch so krachend – sie haben die Alten niemals im Stich gelassen, und hätten wir und haben wir sie auch geschleift und gebuckelt bewegt, bis sie in Sicherheit waren! Nein! Die Jugend damals: Sie waren auf dem richtigen Weg! WIR waren auf dem richtigen Weg! Ohne Wenn und Aber – aber all das ist im Laufe der Zeit verloren gegangen. Ich will mich nicht zum Heute äußern. Ich kann nur aus meiner Zeit erzählen. Was die Bevölkerung im Ganzen darstellte, möchte ich anmerken, dass die Nachbarschaft in aller Freundlichkeit als große Hilfe wichtig war.

Nicht zu vergessen soll auch die „WINTEWRHILFE“ als eine Ehre erwähnt werden. Wer Bedarf hatte in den kalten Jahreszeiten, der konnte sich Bekleidung oder andere entsprechende Bedürfnisse ohne Bezahlung beschaffen aus einer öffentlichen Sammelstelle.

Der Sommer war immer präsent durch die Möglichkeit der Erwachsenen, – soweit ich davon Kenntnis hatte – betraf die Organisation der arbeitenden Bevölkerung, die Entspannung durch die „KRAFT DURCH FREUDE“ genießen konnten. Auch solche Ausflüge waren unentgeltlich, auch mehrtägig mit der „Wilhelm Gustloff“.

(Die letzte Fahrt sollte in dem späteren Chaos der Flüchtlinge aus dem Osten – Protektorat Böhmen und Mären, Sudeten, Masuren, Königsberg usw. – mit der „Gustloff“ Heim ins Reich gebracht werden. Dieses Schiff mit all den Kindern und Müttern ging Ende des ganzen Dramas aus dem Osten auf der Ostsee mit „Mann und Maus“ unter – das mal eben „nebenbei“, bevor ich wieder heule).

Eine ganz große Angelegenheit war die „PREISÜBERWACHUNG“! Alle Produkte der Warenverkäufe waren im ganzen Land einheitlich zu verkaufen. Und zwar Jahr für Jahr, das war bereits Satz, obwohl als es die Lebensmittelkarten noch nicht gab, und die, die Lebensmittelrationen jedoch später rational durchführten. Es gab verschiedene Lebensmittelkarten, nämlich für Säuglinge und stillende Mütter, für Kleinkinder, für Schwerstarbeiter u.a.

Was nun die Kinder, die Jugendlichen betraf, muss ich sagen, dass für UNS sehr viel getan wurde. Es gab die „Krippen“, die vielen Spielplätze mit Aufsicht, wenn die Eltern nicht genug Zeit hatten oder arbeiteten, und ebenso die Plansch- und Schwimmbäder, Turnstunden ohne Elternaufsicht in den Turnhallen und beaufsichtigte Schulklassen zum Zeichnen oder Handarbeiten. Es gab warmes Essen, wenn die Eltern berufstätig waren. Nun will ich nicht sagen, dass die heutigen Eltern lascher sind; um Gotteswillen. Aber, wir hatten damals viel mehr „Aufpasser“ in der freundlichen Nachbarschaft. Wir durften mit essen, in der Wohnung spielen bis Mammi nach Hause kam, oder der Schutzmann brachte uns über die Straße. Klar, es war alles etwas beschaulicher und fußläufiger, die Nachbarn hatten ein Auge auf die Kinder, die Straßen waren beschaulicher mit kleinen Geschäften und so weiter. Heutzutage ist alles Supermarkt und geht nicht ohne Auto. Das kann man nun niemandem ankreiden. Und weil man das nicht kann, ist heute ziemlich alles Mist, und man muss selbst sehen, wie man weiterkommt, aber genau dort ist der Hund begraben. Es gibt kein Auge mehr für ein Kind auf der Straße. Es gibt aber auch auf der Straße kein Kind mehr.

Wichtig waren die MÖGLICHKEITEN der VOLKSSCHÜLER- und -RINNEN. Nach der vierten Klasse standen uns – sofern unsere Leistungen es zuließen – Oberbau und Gymnasium zu. Das kostete zwar Geld – Gymnasium siebzig Mark pro Monat – jedoch, wenn die Eltern nicht in der Lage waren, den Betrag zu wuppen, dann wurden andere Stellen aktiv; und das bis zum Abitur.

Im Übrigen war der SPORT für die Kinder und Jugendlichen von großer Bedeutung. Alles, was nötig war, kostete – jedenfalls für die arbeitende Bevölkerung – nichts. Es war – ich sag es mal so – alles, was gut und gesund war für die Jugend dringend und wichtig. Wen kann sowas stören? (Höchsten die Warnhinweise und Richtungsweisen der Straßenlaternen, zu den „Öffentlichen Luftschutzräumen“, die – noch! – niemanden interessierten!) Auch schien sich niemand dafür zu interessieren, was an Bauprojekten in der Stadt überall aus dem Boden gestampft wurde. Und warum? Was waren das denn für Gebäude? Unterirdische Gänge und fensterlose Hochhäuser? Es interessierte offensichtlich niemand dafür.

Aber der Zusammenhalt der Jugend durch Sport? War absolut „in“! Da gab es die „Abende“! Die wöchentlichen Zusammenkünfte! Wer wollte da zu Hause bleiben? Und das Ganze dann sogar auch noch in HJ-Uniform! – Ich hatte ja nur die Bekleidung „Dunkelblauer Rock und hellblaues Hemd“, woher weiß ich auch nicht mehr, aber ich war ja auch noch kein „BDM-Mädchen“, gehörte noch nicht dem „Bund Deutscher Mädels“ an, also ohne Bestätigung und „Tuch und Knoten“. Mein Pappa war zum ersten Mal richtig sauer mit mir, aber so richtig! Hatte ich als Zehnjährige denn eigentlich überhaupt eine Ahnung, was „Sache“ war? Ich hing zwischen Volksschule mit meiner geliebten Lehrerin und dem unbekannten Gymnasium? Aber erst einmal kamen die Sommerferien – – –

Am 24. Juli 1943 war Hamburg deshalb ziemlich ausgestorben – und im Morgengrauen hatte die Stadt etliche tausend Hamburger zu beklagen. Unsere Kinderaugen konnten nichts begreifen, als wir – mein Bruder und ich an Mammas verkrampften Hand – aus der Bunkerschleuse traten. Alle der vorhin noch gegenüberliegenden Häuser waren platt und brennend vom Schulweg bis zur Emilienstraße und rückseitig in unserer Straße. Ziemlich zerstört und ziemlich verstreut hatten unsere Füße endlich den Zustand unserer Straße und unseres Hauses erreicht. Das Feuer hatte jetzt alle Villen von der anderen Seite zerstört, denn es gab nirgends Löschwasser. WIR wohnten nicht in einer Villa, aber wir hatten eine Brandmauer!

Alle Pappis unserer Straße, die noch nicht im Krieg waren, hatten alle Villen unserer Straße eine nach der anderen leergeräumt und die Habe gerettet bis zur Erschöpfung. Der Himmel war schwarz vom Rauch, die Flieger längst verschwunden, die vielen Flaks verstummt, aber an der Ecke unserer Kreuzung, genau gegenüber, war plötzlich, ohne dass wir es beachtet hätten, eine ganz lange Tafel aufgebaut mit vielen, vielen leckeren Stullen mit Wurst und Käse und ohne Ende, mit gekühlter Milch in weißen Eimern für alle und Jedermann, und es nahm keine Ende mit dem Fleiß der DRK-Schwestern, die die Brote schmierten als würden sie aus der Erde wachsen. Es war egal, wer da kam und wer da was mitnahm für diejenigen, die die ganze Nacht so viel geleistet hatten, egal, wem die Habe gehörte, Hauptsache, sie war gerettet und der Eigner lebte noch!

Das Problem war, dass es keine Sirenen mehr gab auf den Dächern. So wurden wir zu Horchern in der Nacht und Wecker bei Alarm. Und weil das so umständlich und langatmig war, schliefen wir, Mütter und Kinder, wochenlang in den Bunkern. Die Wohnung verließ man eben einfach SO! Denn: „WER PLÜNDERT ODER STIELT WIRD ERSCHOSSEN!“ Das war die Devise.

Und seit dem Tag wussten auch wir Kinder, WAS KRIEG IST, und wir verstanden auch, warum die Pappies, wenn sie denn zurückkamen im Urlaub, als ein Soldat nach Hause kamen und warum die Mammies, wenn der Pappi nicht kam, ein schwarzes Kleid anhatten.

Auch wir Kinder bekamen Aufgaben, indem wir die Klingelknöpfe drückten und nach „Altmaterial“ fragten: „Lumpen, Falschen, Eisen und Papier, ausgehauene Zähne sammeln wir – – „! Das mussten wir dann in der Schule abgeben, die dann Preise bekam je nach Fleiß der Schüler. Wir standen bei Sirene und Flakalarm in der Bunkerschleuse an der Treppe zur Tiefetage um die Kinderwagen und Karren eilig mit nach unten anzupacken. Das war sozusagen unsere „Kriegshilfe“, damit die Pappies an der Front in Ruhe die Bösen in Russland vertreiben konnten. Dazu wollten wir aber auch unbedingt unsere blauen Klamotten anziehen, wenngleich wir noch nicht vereidigt waren. Aber dazu kam es nicht mehr.

Die Britischen Truppen hatten die Stadtgrenze am südlichen Elbufer erreicht und verhandelten mit unserem Bürgermeister über das Schicksal unserer Stadt. Die Bevölkerung hatte totales Hausverbot und durfte die Fenster zur Straße nicht öffnen. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis unser Bürgermeister den Hamburgern erklären durfte, dass die „Stadt Hamburg den Britischen Truppen unbeschadet übergeben wird“. Unser Karl Kaufmann verabschiedete sich von uns in einer Weise, die zu Herzen ging und die man auch nicht vergisst.

Als die britischen Besatzungstruppen sich in Hamburg breit machten, linsten Sie überall in der City die „Frauleins“ an, und die „Frauleins“ fragten artig „are you British?“

Nachtrag:

Ein paar „Kleinigkeiten“ hatte ich nicht bedacht, die ich hiermit doch noch erläutern möchte:

  1. Seit der Luftschutzgeschichte MUSSTEN alle Fenster bei Einbruch der Dunkelheit verdunkelt sein. Wenn ich mich nicht sehr irre, waren die papiernen schwarzen Rollos sofort und überall frei zu haben. Ebenso „verdunkelt“ waren alle Autos, die Beleuchtungen waren bis auf einen kleinen Streifen – ein Zentimeter breit – überklebt.
  2. Man hatte meistens einen billigen RUNDFUNKAPPARAT. Aus dem erklärte „Onkel Baldrian“ – seine Stimme war so sanft ­– uns immer die Lage der Fliegerangriffe, wo und wann wir uns in die Bunker begeben sollten. Deshalb war auch das Radio die ganze Nacht an.
  3. Angesichts dieser „Sendergeschichte“ gab es zwei Alarmberichte: der erste war die Nachricht über die Bomberverbände über dem gesamten Reich und natürlich die Stärke. Das waren immer „die Tommys“, und die kamen meistens von der Deutschen Bucht.  Der zweite war – je nach dem – „Achtung Drahtfunk, Achtung Drahtfunk“ (solche Strippe hatten alle Wohnungen!) Und wieder erklärte uns „Onkel Baldrian“, WO die Bomberverbände auf RICHTUNG flogen und die Flak auf Bereitschaft war.
  4. Noch ´n Gedicht: „Feind hört mit!“ Ein schwarzer Mann mit Hut auf jeder Litfaßsäule. Also halt die Klappe, sonst kommt die Gestapo!

Und keiner wusste, wie`s weiter geht . . .